Mittelreich

Ein Dorf im Spiegel der Generationen, denkwürdige Gestalten, Erinnerungsfragmente, ein Familienepos, alles und jeder bis in die Gegenwart hinein geformt durch die Kriegswirren des vergangenen Jahrhunderts. Der Seewirt, dem zweiten Weltkrieg entronnen, übernimmt das Erbe des Vaters, teilt das Gasthaus am Starnberger See mit jenen, die einfach da- oder übriggeblieben sind und mit denen, die alles hinter sich lassen mussten und dort gestrandet sind. Die Zeit treibt voran, alle versuchen ihr standzuhalten. Sie begrüßen den ersten Plattenspieler und das Wirtschaftswunder. Die Welt um sie herum verändert sich zu dem, was man schließlich modernes Leben nennen wird, und doch bleibt alles stets überschattet von den Erfahrungen, die sich dem Leben eingeprägt haben. Eine neue Generation wächst inzwischen heran, die aus der Vergangenheit ausbrechen und mit ihr endgültig abrechnen will und doch verstrickt bleibt in die Traumata des Jahrhunderts, in das familiäre Erbe, in die alte und die neue Zeit gleichermaßen. Am Grab des Seewirts erklingt schließlich Brahms ́ „Ein deutsches Requiem“, das die Lebenden trösten soll. Ausgehend von der Aufführung dieses Requiems inszeniert die Regisseurin Anna-Sophie Mahler Bierbichlers Roman, ein Musiktheater, in dem im Angesicht des Todes die Erinnerungen aufscheinen.

Premiere am 22. November 2015

Musiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler

Auszüge aus dem Programmheft

Das Junge Vokalensemble München ist ein recht junger Chor aus professionellen und angehenden Sängern. Was hat Sie besonders an dieser Zusammenarbeit mit den Münchner Kammerspielen gereizt, daran, das Requiem von Brahms einmal auf ganz andere Weise zur Aufführung zu bringen?

Als Ensemble sind wir daran interessiert  in der Aufführung von etablierter und neuer Chormusik neue Wege zu gehen.

Dies äußert sich zuerst in unsere Programmwahl unserer Konzerte, bei denen wir Unbekanntes und Zeitgenössisches Repertoire Altbewährtem gegenüberstellen und unter ein gemeinsames Motto bringen. Es ist uns ein Anliegen das traditionelle Format des Chorkonzerts aufzubrechen, neue Aufführungsorte zu nutzen und Ensemblegesang mit verschiedenen Kunstsparten zu verbinden. Dies wollen wir in Zukunft noch stärker etablieren. In MITTELREICH wird genau dieser Aspekt umgesetzt und wir freuen uns sehr, Teil der Uraufführung zu sein.

Das Deutsche Requiem von Johannes Brahms zählt zu den meist aufgeführten Chorwerken in und außerhalb Deutschlands und ist den einzelnen Sängern aus früherer Konzerttätigkeit geläufig.

Das klassische Chorwerk in den dafür eher unüblichen Kontext Theater zu stellen, ist jedoch für alle Sänger sowie für mich als Dirigentin spannendes Neuland. Die Ausschnitte der einzelne Sätze des Requiems bekommen eine Eigendynamik und komplementieren bzw. kommentieren die Handlung des Romans. Interessant ist, wie sich hierbei die Dramaturgie der Komposition mit den Erzählsträngen der Geschichte verwebt und somit eine neue Aussage getroffen wird. Die Aufgabe des Vokalensembles wird hier von der Funktion des Klangkörpers erweitert auf die Rolle eines darstellenden Organismus im Zusammenspiel mit oder als Pendant zum Schauspielensemble.

Besonders ist auch die Besetzung des Werkes. Mit rund 20 Sängern ist das Brahmsrequiem verhältnismäßig klein besetzt, was wiederum die für zwei Klavieren und Pauke eingerichtete Instrumentalfassung von Heinrich Poos gut ergänzt. Im Kontext von MITTELREICH ist das passend, das Ensemble ist dadurch sehr wendig und kann differenziert musizieren und eben auch agieren. Und die individuelle Präsenz der einzelnen Sänger wird in  besonderem Maße gefordert.

Vor diesem Hintergrund ist es für uns eine reizvolle Erfahrung ein solch etabliertes Werk, das wir lediglich aus klassischer Konzerttätigkeit kennen, auch szenisch zu  interpretieren und dabei Teil der Verschmelzung von Chormusik und Theater zu sein.

Inwiefern unterscheidet sich diese Form der Probenarbeit, auch durch die teilweise szenisch Präsenz des Chores zu Ihren sonstigen Auftritten?

Die Verbindung von klassischem Gesang und szenischem Ausdruck auf der Bühne entspricht dem Profil der Sänger des Ensembles. Die meisten studieren Opern- und Konzertgesang und haben zum großen Teil als Solisten und im Chor schauspielerische Erfahrung in Opern- und Musiktheater-Produktionen gesammelt.

Dennoch verstehen wir uns in erster Linie als konzertantes Ensemble. Die Hauptarbeit in den Proben liegt auf der genau Erarbeitung von Notentext und deren Interpretation und der Suche nach einem homogenen, differenzierten und ausdrucksstarke Ensembleklang.

Die Probenarbeit zu MITTELREICH  geht deutlich über diese Arbeit hinaus, denn der musikalische Ausdruck muss mit der Koordination der Szene in Einklang gebracht werden. Der Chor steht beispielsweise nicht ausschließlich frontal zu mir und verlässt im Laufe verschiedener Szenen oft die klassische Choraufstellung in Stimmgruppen, singt teilweise sogar von der Hinterbühne aus oder steht hinter mir. Dadurch ergeben sich öfter technischen Hürden wie räumliche Distanzen, eingeschränkte Sicht zum Dirigierpult und schwierige Lichtverhältnisse, die dementsprechend ausgeglichen werde müssen, so dass das musikalische Ergebnis nicht leidet. Das Musizieren muss teilweise wie „von selbst“ gehen, damit sich die Sänger mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit auf szenischen Ausdruck, Laufrichtung und besondere Sprünge und Einsätze in der Partitur konzentrieren können. Um all diese Dinge reibungslos miteinander abzustimmen, erfordert das intensive szenische Probenzeit, die weit über die musikalische Ausarbeitung hinausgeht.

Eine besondere Erfahrung ist für uns die Mitarbeit bei der Entstehung einer Theater-Uraufführung. Als klassischer Musiker ist man an eine feste (Noten-)Textfassung gewöhnt, die von der musikalischen Leitung ausgearbeitet und interpretiert wird und die die jeweiligen engagierten Musiker ausführen.

Anders ist das bei MITTELREICH: Die Grundidee und einige Eckpfeiler der Inszenierung sind zwar festgelegt, aber sehr spannend ist es zu erleben, wie sich im Laufe der Erarbeitung verschiedener Szenen immer wieder Neuerung ergeben. Regie, Dramaturgie, Kostüm- und Bühnenbildner, Schauspieler und Musiker – alle bringen sich in den Prozess des Entstehens ein und formen die Produktion, so dass letztendlich ein stimmiges Ganzes aus Romanhandlung und Musik und damit ein neues Theaterstück ensteht.

Als Chor im Theater

Die Produktion Mittelreich an den Münchner Kammerspielen hat zwar aufwändige Probenarbeit mit sich gebracht, aber auch Spaß, Freude und unvergessliche Momente. Altistin Cosima Becker gibt einen Einblick in den Prozess von den Anfangsproben bis zum großen Tag der Premiere.

Selig sind nicht nur die, die da Leid tragen, sondern vor allem wir Sängerinnen und Sänger, als wir in den ersten Proben das Brahms-Requiem anstimmen. Bald folgen die szenischen Proben mit der gesamten Crew und ein fünf- bis siebenköpfiges Team sitzt hinter einer Tischreihe und beobachtet uns. Die Arbeit im Theater ist anders. Wir werden nicht wie gewohnt autokratisch von einer Dirigentin geleitet, sondern aufgefordert zu improvisieren – selbstverständlich nicht musikalisch. In den Proben mit den Schauspielern fällt der Unterschied besonders auf. Doch mit jedem Mal werden wir freier und die Schauspieler binden sich an die Musik, welche einzelne Silben oft ins scheinbar Unendliche dehnt.

Neben der wundervollen Musik bringen die Proben bald einen weiteren Höhepunkt mit sich: Wir bekommen unsere Kostüme, so bunt und vielfältig wie wir selbst, aber gleichzeitig homogen. Da watschelt ein Clown mit zu großen Schuhen neben einem Schwein im Bauarbeiter-Kittel und eine Meerjungfrau mit melonengroßen Plastikbrüsten posiert an der Seite eines Prinzen mit Löffeldiadem. Wir haben viel zu lachen, wenn wir uns gegenseitig nur durch die Sommersprossen-Löcher der glotzenden Kindermasken erspähen. Es ist gar nicht so einfach, die uns so sehr vertraute Choraufstellung in diesen Masken zu verwirklichen.

In den letzten beiden Wochen vor der Premiere schlüpfen wir jeden einzelnen Tag aus unserem Hochschulalltag in die skurrile Bühnenwelt. Die Kostüme werden so angepasst, dass die Hosen auch bei unseren beiden schwangeren Sängerinnen bis zur letzten Vorstellung sitzen. Make-up und Haare werden perfektioniert. Gewöhnt haben wir uns an unsere neuen Looks immer noch nicht so ganz und so entstehen hinter der Bühne – man möchte beinahe sagen – legendäre Selfies und Videos.

Dann ist der große Tag gekommen. Bierbichler persönlich sitzt im Publikum und wir dürfen unsere ganze Bandbreite an Ausdruck und Volumen präsentieren. Unsere Umkleiden sind liebevoll gespickt mit Glücksbringerchen, Schweinegummibärchen von den Damen der Maske, und sogar eine Flasche Augustiner „Bier-Bichler“ ist dabei. Die vielen Proben haben sich ausgezahlt und das Premierenfieber sprudelt in uns auf.

…Bevor wir uns versehen, ist die erste Aufführung auch schon vorbei und weil wir einfach nicht genug vom gemeinsamen Musizieren bekommen, gibt es auf der Premierenparty noch als Zugabe einen eigens arrangierten Steurmann-Jazz-Chor. Trotz einer zeitaufwändigen und teils auch anstrengenden Probenzeit sind wir alle irgendwie ein bisschen traurig, dass wir uns und diese Bühne nur noch zu den Vorstellungen wiedersehen. Aber man munkelt, dass wir im Falle Brahms-Requiem noch nicht den letzten Ton gesungen haben.

– Cosima Becker